06 April 2014

Mani Matter

Kurze Lektüre, ewige Hochachtung.

In der spezialisierten Welt arbeitet jeder für die anderen, jeder hat ein Problem seiner Mitmenschen herausgegriffen, das er zu lösen sucht: Der Verkehrsingenieur das Verkehrsproblem, der Marketingman das Marketingproblem, der Nierenspezialist das Problem der Nierdenleiden etc. Das Problem aber liegt in mir selbst: Wie bewältige ich mein Leben? Das wird auch dadurch, dass sich die Einzelproblemlösungen summieren, nicht gelöst. Das müsste jeder für sich selbst lösen. Wie können wir das aber, wenn wir so mit Einzelproblemen der andern beschäftigt sind? Der einzige Spezialist, der das könnte, ist der Schriftsteller. Da er nur auf Schreiben spezialisiert ist, könnte er dieses dazu benützen, das Wesentliche zu schreiben. Meist schreibt er aber Romane. - 
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Im Moment, wo du zu denken anfängst, etwa mit 16, 17 Jahren, bist du schon von der Generation vor dir auf ein Geleise geschoben worden, aus dem du kaum noch herauskommst. Du beginnst dir eben zu überlegen, wozu du eigentlich auf der Welt seist, da bist du schon mitten in faits accomplis, und es braucht beinahe Heldentum, um den schönen Arbeitsplätzchen, die die Gesellschaft für dich bereithält, mit Familienzulage und Pensionsberechtigung, noch zu entrinnen.
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"Was wollt ihr?" fragte der Parlamentarier die Bürger, die ihn gewählt hatten und mit ihm unzufrieden waren. "Was wollt ihr? Sagt es. Ich will es gerne vertreten."
"Dass du uns das nicht fragst", antworteten die Bürger, "wollen wir."
"Was soll ich denn tun?" fragte jener.
"Was du für richtig hälst", sagten die Bürger.
"Aber wie kann ich denn wissen, dass ihr nicht wieder unzufrieden seid?"
"Das soll dich nicht kümmern!" sagten die Bürger.
"Mich nicht kümmern? Bin ich denn nicht euer Vertreter?"
"Doch; aber das will nur sagen: Wir haben dich gewählt. Es heisst nicht: Du sollst dein Amt nicht selbst ausüben."
"Was versteht ihr denn darunter: mein Amt selbst ausüben?"
"Dich nicht hinter unserem Willen verstecken", erwiderten die Bürger. "Die Verantwortung übernehmen!"
"Und wenn ihr nicht einverstanden seid?" fragte der Parlamentarier.
"Dann wählen wir dich nicht mehr."
"Das wäre schlimm!"
"Nein", sagten die Bürger; "schlimm ist, dass du das schlimm findest."
Der Parlamentarier schwieg verwirrt.
"Was glaubst du", sagten die Bürger, "übst du dein Amt aus, damit wir dich zu ihm wählen, oder wählen wir dich, damit du es ausübst?"
Der Parlamentarier entfernte sich kopfschüttelnd ...

(Mani Matter, Sudelhefte, Tagebuch II, Nr. 67, 74 und 83)